Musikalische „Erschütterung” für ein Häuflein Zuschauer
(wk). Schon früh kümmerten sich die Rieser Kulturtage um Joseph Haas. Und immer wieder gibt es Neues zu entdecken. Kein abendfüllendes Unterfangen, offensichtlich braucht man dazu Scarlatti und Liszt. Aber als zweiter Teil eines Klavierabends am Freitag in der Aula des Theodor-Heuss-Gymnasiums waren die ungewohnt elegischen Klänge des geborenen Maihingers, dessen Todestag sich heuer zum 40. Male jährt, für die knapp zwanzig Zuhörer eine bereichernde musikalische „Erschütterung”.
Dabei hätte Johann Straußens bekannte Schnellpolka „Unter Donner und Blitz” wohl eher zum Wetter gepasst, denn just zu Anfang ging über und um Nördlingen eine ganze Serie von lautstarken Gewittern nieder. Gerit Lense ließ sich am edlen Steinway-Flügel jedoch keine Sekunde von den himmlischen Paukenschlägen irritieren. Die drei kurzen Sonaten (a-moll, f-moll und A-Dur) des Neapolitaners Domenico Scarlatti, mit denen sie ihr Programm begann, dienten dann auch keineswegs zum Einspielen, sondern beanspruchten in ihrer liedhaft-tänzerischen, aber technisch brillianten Art durchaus Eigenständigkeit. Wunderschön anzuhören und zugleich herrlich anzusehen Gerit Lenses statisch-ostinate rechte Hand, während die linke im schnellen Flug vom Bass zu hoher Melodie regelrechte Kapriolen schlug – diese Kreuzungen der Hände waren für Scarlattis 18. Jahrhundert geradezu revolutionär. Entschiedener Anschlag, prickelnde Läufe, fast schon genüsslich gestaltete Ornamentik und zupackende Tempi mit durchweg sparsamem Pedal zeichneten Gerit Lenses Spiel hier aus.
Die „Sonatine pour Yvette”, die der Spanier Xavier Montsalvatge (Jahrgang 1911) seiner Tochter zum zehnten Geburtstag widmete, vermochte lautmalerisch ganze Geschichten zu erzählen. Da tummeln sich Hexen und Kobolde, dort schweben Elfen und Feen, dämonische Passagen wechseln mit kurzen melancholischen Momenten und derb-fröhlichen Abschnitten. Dazwischen blitzen immer wieder Motive von Kinderliedern auf. Die Solistin schaffte mit vollen Händen „Morgen kommt der Weihnachtsmann” heran, die Musik lugte durchs Schlüsselloch der Bescherung und beschrieb ganz nebenbei die aufgewühlte Kinderseele.
Franz Liszts „Vallee d’Obermann”, eine leidenschaftliche Komposition, forderte und bekam von Gerit Lense ausnahmslose Hingabe. Die symbolgeladene Gedankenflut des jungen Liszt im Anblick der mächtigen Schweizer Bergwelt, die schwelgenden Harmonien, die romantische Wucht mitsamt ihren abrupten Stimmungswechseln waren dann auch genial gespielt und perfekt wiedergegeben.
Zur Erinnerung an seinen im ersten Weltkrieg gefallenen Verleger und Freund Ludwig Schittler schuf Joseph Haas 1915 die vier Elegien „Ate unnennbare Tage” opus 42. Dieses viersätzige wortlose Requiem schwebt zwischen bitterer Anklage und totaler Resignation. Und über das Ohr wird das Herz schwer. Gerit Lense scheint die ganze Palette des Weltschmerzes in den Fingern zu haben, rahmt die kurzen Dur-Einschiebsel hellfarbig ein, um die Stimmung im unweigerlichen Moll bald wieder zu verdüstern. Als der Schlussakkord in der Endlosigkeit verklingt, stellt selbst Petrus sein Grummeln ein. Und 38 Hände klatschten, was sie hergaben. Wolfgang Haas, Enkel des Komponisten und zugleich „Motor” der veranstaltenden Joseph-Haas-Gesellschaft, brachte in seinem Dankeswort ein öffentliches „Bravo” auf die Solistin aus, die sich in ihrer Art mit zwei Haas-Variationen als Zugabe revanchierte.